Bis zum Hals im Sumpf


Der weltweit grösste Schlammvulkan faucht und sprudelt seit acht Jahren. «Lusi» hat dreizehn Dörfer verschlungen und ist inzwischen zum Sinnbild des Polit-Sumpfs in Indonesien geworden. Anwohner halten Dämme besetzt und rufen nach Kompensation.

Nach der Trockenperiode wartet man auf Ostjava sehnlichst auf das kühlende Nass. Die Reisfelder sind noch karg, die Vegetation halb verdorrt und die Luft staubig. Der 1650 Meter hohe Vulkan Penanggungan verschwindet im gelbtrüben Dunst und ist von der indonesischen Kleinstadt Sidoarjo aus gerade noch knapp auszumachen.

Gestank von faulen Eiern

Doch nicht alle Bewohner im 30 Kilometer südlich von Surabaya liegenden Sidoarjo sehnen sich nach Wasser. Mit den Regengüssen drohen nämlich die Dämme um den Schlammvulkan «Lusi» zu bersten; verdünnt und aufgeweicht, stinkt die graue Brühe dann noch penetranter. Hätte man den Schlamm nicht immer wieder abgepumpt, wären die bis fünfzehn Meter hohen Umrandungen, die den fauchenden Schlund weitläufig umgeben, längst überflutet und noch mehr Siedlungen in Mitleidenschaft gezogen worden.

Der Kosename «Lusi» steht für Lumpur Sidoarjo. Die Anwohner nennen die stellenweise verkrustete Oberfläche, unter der dreizehn Dörfer begraben liegen, auch «Lumpur Lapindo». Lapindo Brantas heisst die Firma, die hier vor acht Jahren nach Erdgas bohrte. Mit verheerenden Folgen: Sie stiess damals in einer Tiefe von 1750 Metern, in die man nach nur 20 Tagen vorgestossen war, zwar auf ein Gasgemisch. Doch es roch verdächtig nach faulen Eiern, erwies sich als betäubend und war erst noch leicht entflammbar: eindeutig Schwefelwasserstoff. Doch es sollte noch schlimmer kommen.

Indonesien liegt auf einer tektonischen Bruchlinie der Erdkruste, wo die eurasische auf die australische Platte stösst. Erdbeben und Vulkanausbrüche sind auf dem Archipel, der sich von Aceh bis Papua erstreckt, fast an der Tagesordnung. Allein auf der Insel Java, wo über die Hälfte der indonesischen Bevölkerung von 250 Millionen Menschen lebt, zählt man heute 35 aktive Vulkane. Wie auf einer Perlenschnur reihen sich diese speienden Berge von Bali quer durch Java bis nach Sumatra. An der Oberfläche gedeiht die Natur prächtig, doch in der «Unterwelt» ist einiges in Bewegung.

Wenn sie auf Sumatra oder Kalimantan jeweils nach Erdgas gebohrt hätten, erklärt der 47-jährige Pitando Hariyadi, habe man die Bohrlöcher an den Wänden vorschriftsgemäss immer mit Stahlrohren abgedichtet. Mit dieser Sicherheitsmassnahme wolle man sogenannte «kick backs» aus der Tiefe verhindern, die im Bohrprozess beim Durchbrechen von Hochdruckzonen immer wieder aufträten. «Auf Java nicht nötig», hätten seine Vorgesetzten damals gesagt. Dass hier Schlamm und Gase mitunter urplötzlich aus dem Erdinnern hervorquellen, hatten schon die Niederländer in früheren Berichten festgehalten.

Hariyadi hatte einen kurzen Arbeitsweg. Sein Haus in Reno Kenongo, einem Dorf, das es längst nicht mehr gibt, war nur 500 Meter von der Bohrstelle entfernt. Er erinnert sich genau an jenen 29. Mai im Jahr 2006: Wegen austretenden Schwefelgases hatte man das Bohrloch behelfsmässig zugestopft. Der Pfropfen wirkte, aber nur lokal: Im grösseren Umkreis der Bohrstelle schossen plötzlich graue Fontänen in die Höhe; der Druck aus der Tiefe hatte die Erdkruste an anderen Stellen durchbrochen. Innerhalb weniger Tage bildeten sich Schlünde, aus denen immer grössere Mengen Schlamm ausgeworfen wurden, bis zu 180 000 Tonnen pro Tag. Zuerst verschwanden die Baumaschinen, dann Reisfelder und Gärten, eine Hauptstrasse, einzelne Häuser und schliesslich ganze Dörfer. Heute erstreckt sich «Lusi» über eine fünf Quadratkilometer grosse «Mondlandschaft», in der einst 30 000 Menschen lebten. Die Eruptionen haben inzwischen etwas nachgelassen; doch es sprudelt, faucht, raucht und stinkt immer noch, und Geologen schliessen nicht aus, dass der mittlerweile weltweit grösste Schlammvulkan noch jahrzehntelang aktiv sein könnte.

Auch ein politischer Sumpf

Längst ist «Lusi» auch zum Sinnbild des politischen Sumpfs in Indonesien geworden. In sicherer Entfernung vom Ort des Auswurfs sind inzwischen zwar mit staatlicher Hilfe, die sich gesamthaft auf umgerechnet etwa 500 Millionen Dollar beläuft, neue Siedlungen entstanden; doch der penetrante Gestank bleibt, und die meisten der Vertriebenen, die zwei Jahre lang in Massenunterkünften leben mussten, warten immer noch auf eine anständige Entschädigung. Das hat seinen besonderen Grund: Weder der Staat noch die Firma Lapindo Brantas, die zum Imperium eines einflussreichen Politikers gehört, fühlen sich verantwortlich.

Zwei Tage vor der Eruption von «Lusi» bebte im 250 Kilometer westlich von Sidoarjo gelegenen Yogyakarta die Erde. Jene Erschütterungen vom 27. Mai 2006 forderten damals gegen 4000 Tote, und der nahe Yogyakarta gelegene Vulkan Merapi rief sich prompt feuerspeiend in Erinnerung. Für Lapindo Brantas und ein Heer von Juristen war und ist damit der Fall klar: Nicht die Bohrungen, so heisst es jeweils vor den Gerichten und an Fachkonferenzen, hätten die Schlamm-Eruption provoziert, sondern das Erdbeben von Yogyakarta. Für höhere Gewalt, so die Firma, hafte man nicht.

Die Fachwelt ist allerdings geteilter Meinung. Dass Sicherheitsvorkehrungen beim Drillen missachtet wurden, ist unbestritten. Aber ob das Anbohren der urzeitlichen Schichten und Kammern Javas das Unglück provozierte oder ob das Erdbeben über jenen labilen tektonischen Platten zum plötzlichen Druckaufbau führte, bleibt umstritten. Die Faszination der Geologen ist gross, doch das Ausmass der Verwüstung ist längerfristig noch nicht absehbar. Der frühere indonesische Präsident Susilo Bambang Yudhoyono sowie lokale Gerichte machten die Bohr- und Explorationsfirma zumindest mitverantwortlich. Doch gegen Lapindo Brantas, die zum Imperium der Bakrie- Gruppe gehört, war bisher kein Kraut gewachsen. Die Bakrie-Gruppe gehört nämlich der Familie um Aburizal Bakrie, den Parteipräsidenten der mächtigen Golkar-Partei. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Yudhoyono nach seiner Wiederwahl 2009 im Parlament auf die Unterstützung von Golkar angewiesen war.

Auf Transparenten, die an den Staumauern befestigt sind, schneidet das Politiker-Duo schlecht ab. Der frühere Präsident wird als Lügner und Bückling bezeichnet, der seine Wahlversprechen nicht eingehalten habe. Bakrie sei ein skrupelloser Schurke, der sich aus der Verantwortung stehle. Zwar hat die Bakrie-Gruppe seinerzeit finanzielle Nothilfe geleistet, die – damit daraus kein Schuldeingeständnis abgeleitet werden kann – als «humanitäre Geste» bezeichnet wurde. Viel mehr ist nun nicht zu erwarten, denn inzwischen hat das hauptsächlich im Energiegeschäft verankerte Firmenimperium Milliardenschulden angehäuft und ist ohnehin praktisch bankrott.

Blockierte Zugänge

Um Druck auf Joko Widodo, den neuen Präsidenten, und auf die Öffentlichkeit zu machen, halten Wachposten rund um «Lusi» seit geraumer Zeit die Zugänge besetzt und lassen keine Bauarbeiter durch: Bagger, Pumpen und Rohre, mit denen man die Brühe früher jeweils zur Entlastung in den nahegelegenen Fluss Porong leitete, verrosten und verleihen der Szenerie zusätzlich eine apokalyptische Note. Die Dämme, so die Überlegung der Besetzer, sollen durch den Druck des Regenwassers nur überlaufen und allenfalls gar bersten, damit alle Welt sehe, welche Zustände in Indonesien herrschten.

Während des diesjährigen Wahlkampfes war Widodo hier zu Besuch und tauchte seine Hände demonstrativ in die stinkende Brühe. Entsprechend hoch sind nun die Erwartungen an ihn: Die Bakrie-Gruppe soll endlich für den immensen Schaden geradestehen und die Betroffenen entschädigen. Weil Bakrie aber selbst tief im Schuldensumpf steckt, ist dies unwahrscheinlich. Und weil Präsident Widodo – noch mehr als sein Amtsvorgänger – im Parlament auf die politische Unterstützung von Golkar angewiesen ist, dürfte sich so rasch nichts ändern. Eine kleine Hoffnung der Anwohner besteht darin, dass Bakrie bei der anstehenden Umbesetzung der Golkar-Spitze abgelöst wird. Geologen wie Hardi Prasetyo, der Chef der BPLS-Behörde, die sich mit allen Folgen der Eruption auseinandersetzt, beobachten und vermessen «Lusi» täglich. Die demonstrierenden Anwohner sind für ihn mittlerweile zur Nebensache geworden. Er beschäftigt sich bereits mit der Zukunft und möchte insbesondere herausfinden, welche Baum- und Pflanzenarten auf dieser langsam verkrustenden Oberfläche dereinst gedeihen. Dann könnte man die neue Landschaft vielleicht auch einer neuen Nutzung zuführen, meint er.

Sehr ermutigend sieht es derzeit nicht aus. Wo die Brühe hinreicht, wächst bis jetzt jedenfalls kein Pflänzchen. Einsam ragt die rotweisse indonesische Flagge aus dem Sumpf, die Prasetyo weit draussen auf halbwegs festem Grund in den Boden gerammt hat. Kritischere Berufskollegen von Prasetyo warnen vor allzu kühnen Phantasien. Auf 150 Millionen Kubikmeter werden die seit 2006 ausgeworfenen Schlammmassen derzeit geschätzt. Je dicker und schwerer die Decke werde, umso grösser werde die Gefahr, dass die neuen Hohlräume im Erdreich einst einbrechen – mit oder auch ohne Erdbeben als Auslöser.

Manfred Rist

Sumber: http://www.nzz.ch/international/bis-zum-hals-im-sumpf-1.18452158

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